02.09.2011
Land: China China
KM: 10.022

Kashgar - „Jingel bells, jingle bells…“ Wir schrecken aus dem Schlaf empor. War es ein Traum oder haben wir jedes Zeitgefühl verloren? Lauthals tönte morgens um sieben ein wenig blechern das bekannte Weihnachtslied durch die offene Fenstertür unseres Zimmers in der Old Town von Kashgar. Nach 10.000 km auf dem Rad in knapp 5 Monaten kann schon so einiges durcheinanderkommen. Die Dichte der Erlebnisse im Verhältnis zur Zeit, ergibt auf jeden Fall ein anderes Lebens- und Zeitgefühl. Für uns lässt es sich am besten mit einem Leben im „Jetzt“ umschreiben. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer mit wenig Leitlinien und relativ unklarem Ausgang. Wir sind voll gefordert und können gedanklich nicht an der Vergangenheit hängen oder in der Zukunft träumen. Dies erscheint uns eine gesunde Lebenseinstellung und spricht in diesem Punkt durchaus für ein Nomadenleben.

Für uns geht mit "Berlin-China/10.000 km“ ein Abschnitt zu Ende und es ist Zeit für ein Fazit. Das Weihnachtslied beschallte übrigens den riesigen Schulhof, der gegenüber dem Hostel liegenden Schule. Hunderte von uniformierten Kindern kamen zum morgendlichen Appell zusammen.

Tourist oder Traveller
"
Tourist, Tourist…“ tuschelt es oft in unserer Nähe, wenn wir irgendwo auftauchen. Manchmal stellen uns Einheimische auch direkt die Frage „Tourist?“. Was soll man da antworten? Wir fühlen uns nicht wie Urlauber. Reisen ist zur Normalität geworden. Wir liegen nicht relaxed am Strand und haben kaum Leerlauf. Unsere Lieblingsantwort lautet dann „Traveller“, dies scheint es uns am besten zu treffen.

Beste Radreiseländer
Betrachtet man alle Faktoren, war die Türkei für uns das perfekteste Radreiseland. Große Gastfreundschaft, tolle Landschaft, anspruchsvolles und abwechslungsreiches Radeln auf guten Straßen mit breiten Schultern, gutes Essen und kulturelle Vielfalt. Der Iran war ohne Frage das aufregendste Reiseland. Wir kamen insbesondere am Anfang aus dem Staunen vor der fremden Welt nicht mehr heraus. Tadschikistan war mit dem Pamir-Highway das spektakulärste Reiseland, verbunden mit einer unglaublichen Gastfreundschaft. Man konnte praktisch an jede Tür klopfen und bekam Essen und ein Bett.

Tage auf dem Rad
Wenn Radfahren dann richtig, wenn möglich zwischen 100-120 Km pro Tag. Uns fällt es schwer, Sightseeing und Radfahren zu verbinden. So entgeht uns die ein oder andere „Hot Springs“ oder „Mosque“, wir kommen aber gut voran. Wir fahren fast nie mit anderen zusammen. Es ist ein Phänomen das, bis auf Ausnahmen, jeder seinen Rhythmus pflegt und es den meisten nicht erstrebenswert erscheint sich anpassen zu müssen. Kurze Ruhephasen sind mit Essen und Trinken ausgefüllt. Hinsichtlich Schlafplatz entscheiden wir kurzfristig, wir lassen es meistens laufen und schauen wie es sich entwickelt.

Ruhetage
An Ruhetagen gibt’s leider weniger Ruhe als erhofft. Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen Organisation, Sightseeing und Nichtstun. Wir wollen uns in Zukunft mehr Müßiggang gönnen. Kaum wacht man auf, schießt es einem durch den Kopf: Haben wir genug Geld, gibt’s irgendwo Internet, woher bekommen wir Infos zu Routen und Visa, wie sind die Öffnungszeiten von Geschäften, welches Essen muss rangeschafft werden, ist was an den Rädern zu basteln, müssen Klamotten gewaschen werden. Tagebuch muss geschrieben werden (damit man überhaupt noch jemals die Fülle an Erlebnissen rekonstruieren kann) und zu guter Letzt muss die Internetseite aktualisiert werden. Unsere Lieblingsdiskussion: Wer bekommt wann den Rechner!

Radtechnik
Wir staunen über die Robustheit unserer Räder. Wir haben immer noch die gleichen Reifen und Bremsbelege aufgezogen. Die ersten 6000 km hatten wir keinen Platten, seitdem sehr viele, u.a. einige gemeine „Schleicher“, wir haben aufgehört zu zählen. Eine neue Kette gab es bei km 7000. Das hintere Ritzel haben wir einmal gedreht. Einen Ölwechsel bei der Rohloff-Nabe wurde vor zwei Tagen ordnungsgemäß durchgeführt. Bei beiden Rädern haben wir einmal das Steuerlager nachgestellt. Das war’s! Weiterhin haben wir unseren Freunden von „Fahrradfritze“ in Berlin zu danken, die uns immer beratend zur Seite stehen und uns per Post mit Material versorgen (www.fahrradfritze.de).

Nervendes und Enttäuschendes
Im Alltag ist nie alles schön. Uns nerven zu viele Menschen, die uns zu Leibe rücken, zu viel „Hello, Hello…“, zu viel Lärm und Verkehr, Gegenwind, der ewige Dreck, halbstarke pöbelnde Kids, schlechtes Essen. Enttäuschend ist manchmal die immer währende Oberflächlichkeit, zu allen die man trifft. Begegnungen sind kurz und enden zwangsläufig schnell. Wirkliche Freundschaften können schwer entstehen. Schön, dass es ein paar wenige Ausnahmen gibt. Oftmals gibt es zu viele Erlebnisse in zu kurzer Zeit, das verarbeiten fällt schwer. Ein Leben im Zeitraffer, ohne Tagebuch kaum festzuhalten.

Schönste Erlebnisse
DAS schönste Erlebnis gibt es nicht. Toll sind die Momente, wo sich Probleme auflösen und alles wieder funktioniert. Radfahren bei hereinbrechender Dunkelheit im Niemandsland, ohne Wasser und Schlafplatz und plötzlich eine Einladung, ein Hotel, oder ein Bach mit Platz für ein Zelt. Ein Türke, der uns am Abend auf dem Rad zwei eiskalte Dosen Bier zuwirft, in einer Gegend, wo es nichts gibt. Gipfelmomente bei harten Pässen. Päckchen, die doch tatsächlich, postlagernd versendet, den Weg zu uns gefunden haben. Das sind einige von vielen Highlights. Generell auch viele Aktionen/Einladungen mit/von anderen Reisenden oder Einheimischen.

Negativste Erlebnisse
Wirkliche Gefahren haben wir bisher nicht erlebt. Das alte Phänomen: Die Dinge die einem zu Hause in der Theorie bedrohlich erscheinen, passieren in der Realität nicht. Hoffen wir, dass es so bleibt. Unschöne Erlebnisse waren die vielen Steine werfenden Kids im Osten der Türkei sowie ein Ereignis im Osten des Iran. Zwei Mopeds ca. 16 Jahre alte Kids griffen uns beim Radeln an, schlugen uns auf den Helm und versuchten und die Sonnenbrillen zu klauen. Plötzlich schlug einer mit einem Gürtel auf Bettina ein. Lachend gaben sie Gas und zogen davon. Dabei berührten sich ihre Mopeds und es gab einen riesen Crash. Alles explodierte in einer großen Staubwolke und wir zogen mit einem kleinen Lachen von dannen.

Was vermissen wir
Wirklich vermissen wir bisher nichts. Natürlich gibt es kleine Dinge, von denen wir ab und an träumen. Mal wieder richtigen Käse essen, am besten mit einem guten Rotwein. Kaffee und Kuchen nach europäischer Vorstellung. Jeans statt Funktionsklamotten. Eine frisch gedruckte Ausgabe des Spiegels oder der Zeit. Mehr Auswahl bei Büchern. Bettina vermisst ihre Tochter Franzi. Interessanter Weise vermissen wir weniger das Kino, welches wir daheim wöchentlich besuchen. Es gibt hier täglich zu viele Geschichten, als das noch welche aus TV und Kino dazu kommen müssten.

Besondere Herausforderung
Unsere europäische (Deutsche) Sozialisierung lässt uns in bestimmter Art und Weise an die Dinge heran gehen, in den meisten Fällen in Form von planvollem und pragmatischem Handeln. Oftmals scheitern wir damit an der Mentalität der hiesigen Länder, was an den Nerven zerrt. Die notwendige Flexibilität und Geduld müssen wir uns mühsam anerziehen. Doch meistens gilt: Man kommt immer zum Ziel; oft anders als zunächst gedacht.

Verhältnis zum Radfahren
Kann man das Radfahren auch irgendwann hassen oder wird’s langweilig? Wir erleben Radfahren als ein ständiges emotionales Auf und Ab. Launen, Zuversicht, Hungergefühl, Müdigkeit, alles ist im ständigen Wandel, je nach Situation und Tageszeitpunkt. Es gibt immer einen Kampf gegen schlechte oder steile Straßen, Wind, Regen, nicht mehr sitzen können oder das Verfehlen von Zielen. Genauso viele euphorische Momente beim Erreichen von Pässen, Etappenorten, schönen Gegenden. Langeweile kann es also nicht geben. Nach mehr als 5 Tagen am Stück auf dem Rad sinkt schon mal die Motivation. Nach ein/zwei Ruhetagen ist sie dann wieder da.

Weitere Beobachtungen
Ein Phänomen war für uns das Hostel-Leben zwischen Istanbul und Kashgar. Wie wohl nirgendwo in der Welt laufen hier immer wieder die Wege aller Reisenden zusammen und man trifft sich immer wieder, da Städte wie Istanbul, Teheran, Maschad, Bukhara, Samarkand, Duschanbe und Kashgar eine „Nadelöhrfunktion" haben. Dies führte zu sehr netten Kontakten, fast Freundschaften, die uns die sonstige Oberflächlichkeit teilweise vergessen lassen. Interessant auch die Technisierung des modernen Reisenden. Kommt man in eines der einschlägigen Hostels erlebt man ein wahre Schlacht aus Laptops, Ladegeräten, Fotoapparaten, Ipots und Ipats, eBooks, Handys…etc. Wo bleibt dabei eigentlich das gute alte Buch? Wir haben den Eindruck, dass es deutlich an Bedeutung verloren hat. Tauschen von Büchern bspw. scheint weniger üblich zu sein als erwartet, ist fast schon etwas Exotisches.

 



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Kommentare

Mike, 05-09-11 11:37:
Hi Bettina & Alex,
macht weiter so. Tolle Berichte und schöne Fotos - das schreit nach einem Taschenbuch und mindestens einer DIA Show in einem KINO!!! Ich warte sehnsüchtig auf jeden neuen Eintrag. Viel Glück auf den nächsten 10.000KM.
Robby, 03-09-11 20:19:
Alex hat Haare!!! Das flasht mich aber nur halb so doll, wie die anderen Bilder!Und das das Paket tatsächlich bei euch angekommen ist-unglaublich...
Ecki, 03-09-11 19:36:
Hallo Ihr beiden, die Hannoveraner Gang verfolgt Euer treiben aufmerksam, wenn auch meistens kommentarlos. Wir sind schwer beeindruckt und wünschen Euch auf dem weitern Weg alles Gute!
Reinhaun, Ecki
Anne mit Jakob und Timo, 03-09-11 14:38:
WIR sind super gespannt auf eure nächsten 10000! Auf dass die schönen Momente mehr werden und auch weiterhin böööse Menschen sich zuverlässig in Staubwolken auflösen... am besten noch bevor sie euch ärgern können! Weiter so, ihr Helden der Prärie - unserer gespannten Verfolgung dürft ihr euch sicher sein!
Mona (Lutz), 03-09-11 10:43:
Als Fan von einigen Serien im TV muss ich heute mal sagen, dass ihr inzwischen meine "Lieblingsserie" geworden seid ;-) Wir warten immer ganz gespannt auf euren nächsten Bericht und haben einen leichten Anflug von Unruhe, wenn er mal eine längere Zeit auf sich warten lässt. Wir haben schon viele Freunde und unsere Familie mit euren Reisebrichten infiziert und ihr seid bei fast jedem Gespräch ein fester Bestandteil :-) Inzwischen fragen mich schon Anwohner hier in Neukölln nach euch, wo ihr jetzt seid und wie es euch geht. Wir lieben eure Fotos ... macht mehr davon ;-) DANKE , dass ihr euch nach euren vielen Radkilometern noch hinsetzt und uns an euren Erlebnissen teilhaben lasst. Eure Fangemeinde wächst :-) und so wünschen wir euch und uns noch viele schöne Berichte und so wunderbare Fotos.
Liebe Grüße aus Berline-Neukölln/Friedichshain
Steffi, 02-09-11 19:56:
Hi Alex,
bisher habe ich kommentarlos Eure ersten 10.000 km mit großer Begeisterung verfolgt und bin jedes Mal fasziniert, wie Ihr das Nomadenleben per Rad Etappe für Etappe mit all den landschaftlichen Eindrücken und Begegnungen von Menschen verschiedener Couleur meistert. Sehr wohl nachvollziehbar, dass ihr mit dem Verarbeiten kaum hinterherkommt.
Eure Berichte und Fotos gehören inzwischen wie das Lesen des wöchentlichen Spiegels :) zu meinem Wochenrhythmus dazu.
Schön, dass Euer „Buch“ noch viele Monate weitergeschrieben wird.
Der „Besenmann“ und ich wünschen Euch weiterhin gesundes und unfallfreies Kurbeln auf Eurer Weltroute.
Steffi (vis-a-vis von Jule :)))

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